Schrei nach

Text
Ron Ulrich
Fotos
Fritz Beck

Joshua Kimmich stachelt sich und seine Kollegen bis übers Limit an. Wie tickt der Anführer von Deutschlands neuer Fußball-Generation?

Siegen

Schrei
nach
Siegen

Text
Ron Ulrich
Fotos
Fritz Beck

Joshua Kimmich stachelt sich und seine Kollegen bis übers Limit an. Wie tickt der Anführer von Deutschlands neuer Fußball-Generation?

Joshua Kimmich schaut oft schnurgerade nach vorne. Selbst in bewegenden Momenten könnte er bedenkenlos beim Staredown mitmachen, den sich Schwergewichtsboxer vor ihren Kämpfen liefern. Im rechten Auge hat er einen roten Punkt auf der Regenbogenhaut. Ist er wütend, glüht das Grün in der Iris. Der Blick wird glasig. Er fixiert sein Gegenüber, die Brauen schieben sich zur Nase, er beißt mit dem Oberkiefer auf die Unterlippe, er drückt das Kinn fauchend vor. Andere Fußballer kratzen sich nach Spielen am Kopf oder schauen ins Nichts hinter den Reportern, um ihre Wut oder Anspannung zu unterdrücken. Er schaut blank nach vorn. So war es im Interview nach dem 1:2 gegen Real Madrid im April 2018, direkt nach der Mexiko-Niederlage bei der WM in Russland und auch kürzlich nach dem 0:2 im Supercup gegen Dortmund. Da war er Gegenspieler Jadon Sancho auf den Spann getreten und hatte Glück gehabt, keine Rote Karte zu sehen. Keine Absicht, erklärte er später.

Kimmich ist kein unfairer Spieler und kein Wüterich. Trotzdem sagen seine forschen Auftritte vor der Kamera etwas über ihn aus. Er gilt ja als abgeklärter und routinierter Profi, als Prototyp einer Generation von Spielern, die viel früher Disziplin lernen und Verantwortung übernehmen musste als vorherige. Es sind diese raren Momente der übergroßen Anspannung, die einen anderen Joshua Kimmich zeigen. Wenn er alles gegeben und am Ende doch verloren hat, zeigt sein Gesicht noch heute den ehrgeizigen Teenager von einst.

Heute, im Jahr 2019, ist Kimmich der reifste Jungspund im deutschen Fußball. Über 40 Länderspiele, vier Meistertitel, zwei Pokalsiege, Confed-Cup, EM, WM. Er gilt als einer der besten Rechtsverteidiger in Europa. Es ist die Vita eines 34-Jährigen bei einem 24-Jährigen. Und was noch hinzukommt: Er ist der größte Kleine. Offiziell misst er 1,76 Meter, doch manchmal wirkt er so hoch aufgeschossen, als müsste er sich unter dem Türrahmen ducken. Das erzeugt Spannung und Reibung. Auch weil er noch höher hinaus will, Titel gewinnen will. Barcelonas Legende Xavi pries ihn in der „Sport-Bild“ als seinen möglichen Nachfolger, die Klubfunktionäre sollen das auch so sehen. Kritiker empfinden seine Forschheit als Anmaßung. Ist Kimmich also ein neuer Xavi mit dem 360-Grad-Blick auf dem Platz? Ein Uhrwerk-Fußballer wie Philipp Lahm oder gar ein strebsamer Philipp Amthor, der mehrere Klassen übersprungen hat? Oder ein überemotionaler Typ Oliver Kahn? Und was treibt ihn an?

An einem Mittwoch Anfang März liegt der Morgenschleier wie Raketenrauch über der Säbener Straße in München. Hier, in den Büroräumen des FC Bayern, wurde tags zuvor eine Ära pulverisiert. Bundestrainer Joachim Löw war vorstellig geworden und hatte hastig, ja fast überfallartig den Weltmeistern Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng das Ende ihrer Karrieren in der Nationalelf mitgeteilt. Früh morgens postieren sich nun die ersten Kamerateams für Liveschalten, Mikrofone werden getestet. Um 7.45 Uhr reißt Joshua Kimmich im Gebäude die Türen auf, die Löw zuvor zugeschlagen hat. Er legt sich die Treffen gern vor die erste Einheit des Tages, als bedürfe es noch eines Beweises, dass für ihn nichts zu früh kommt. In seinem Auftreten liegt meist eine irritierende Klarheit, die oft als Blasiertheit missgedeutet wird. Durchgedrückter Rücken, gerader Blick. Kimmich hat kein Handy oder die üblichen Accessoires wie übergroße Kopfhörer dabei. In einem kleinen, fensterlosen Raum setzt er sich in Trainingskluft auf einen Tagungsstuhl, kreuzt die Beine und erzählt ohne Umschweife.

Als es um die Formkrise bei den Bayern und der Nationalelf geht, sagt er knapp und schonungslos: „Immer Pech ist kein Zufall“, „Uns fehlte die Konzentration“ oder „Kaum einer hatte Normalform“. Sätze wie seine Flanken, mit Schnitt.

In den Tagen nach Löws Entscheidung wird Manuel Neuer zum Aus von Hummels, Boateng und Müller befragt. Er laviert, zeigt Verständnis für Löw, auch Verständnis für den Ärger. Ein Kapitän erdrückt zwischen der Loyalität zu seinen Mitspielern und der zum Bundestrainer. Kimmich hingegen wird später in einer Presserunde konstatieren: „Die Art und Weise war nicht okay.“ Da schreibt sich die Schlagzeile von selbst. Der Satz ist nicht ohne Chuzpe, ohne Risiko formuliert. Denn wenn Joachim Löw eines noch mehr als Standardsituationen verachtet, dann öffentliche Kritik an seinem Stil. In diesem Fall aber sprechen sich die beiden am Telefon aus, Kimmich trägt weiter das Nationaltrikot und kein Büßerhemd. Und er nimmt auch in der Folge kein Blatt vor den Mund. Kurz vor Saisonschluss geißelt Franz Beckenbauer die Bayern-Mannschaft als „verwöhnten Haufen“, was alle Spieler flugs als Einzelmeinung relativieren. Bis Kimmich daherkommt und Beckenbauer Recht gibt.

Kimmich gilt als kommender Kapitän der Nationalmannschaft. Auch weil der Umbruch nach dem Desaster in Russland ihn in den Fokus rückte. Joachim Löw garantierte ihm eine neue Rolle im Zentrum des Spiels, und auch abseits des Platzes will er den Ton angeben. Erstmals richtig registriert haben das die Kollegen, als sich die Situation in Watutinki krisenhaft zuspitzte. In der großen Aussprache nach dem 0:1 gegen Mexiko gehörte er zu den Spielern mit dem höchsten Redeanteil, monierte die Einstellung und plädierte für eine rasche Umstellung auf Dreierkette. „In den U-Mannschaften war ich immer hinten dran und sicher kein Anführer. Doch bei der WM 2018 war ich von den jüngeren Spielern noch derjenige mit den meisten Länderspielen“, sagt er. „Und ich wollte natürlich den Erfolg, wie alle anderen auch – von daher spreche ich dann auch offen an, wenn mir etwas auffällt.“

So wurde er zu einem Sprecher der jungen Garde, vor allem der Jahrgänge 1995/96. Kimmich coacht seine Altersgenossen wie Brandt oder Gnabry auf dem Platz, schickt ihnen hinterher Nachrichten, wenn sie ein gutes Spiel gemacht haben. Kimmichs Ehrgeiz ist kaum zu bremsen, in den großen Dingen und in den Details. Beispielsweise im Bayern-Training, bei einer Torschussübung. Es geht eher locker und spaßig zu. Als ein Pass zu weit gerät, sprintet Kimmich hinterher und schießt den Ball schräg von außen aus unmöglichem Winkel ins Tor. „Come on, Männer, noch mal vier Stück!“, ruft er seinen Mitspielern zu und klatscht auffordernd in die Hände. „Come on“ ist sein typischer Ruf. Das passt nicht jedem, auch weil manchem Mitspieler die Schlagfertigkeit eines Niklas Süle fehlt. Bei dessen erstem Training mit den Bayern soll Kimmich mahnend gerufen haben: „Nikki, los, beweg dich mal.“ Süle konterte: „Was die kleinen Fische hier sagen, interessiert mich nicht.“ Ein Schlagabtausch, wie ihn Kimmich durchaus schätzt. Die beiden sind heute eng befreundet. Süle, ein Bär von einem Verteidiger, zwanzig Zentimeter größer als Kimmich und sieben Monate jünger, sagt über seinen Kollegen: „Er ist wie ein strenger Papa.“

Aus Kimmich bricht bisweilen der Übereifer heraus. Er steht auch für eine Generation der Selbstoptimierer. Serge Gnabry ernährt sich vegan, Leon Goretzka verzichtet auf Kuhmilch und Gluten. Viele junge Spieler betreiben Extraschichten, aber Kimmich setzt mit calvinistischem Arbeitsethos oft noch einen drauf. Hermann Gerland wurde warm ums Kämpferherz, weil Kimmich nach Extraschichten am Kopfballpendel fragte. Anspruchsvolle Fußballlehrer wie Matthias Sammer und Pep Guardiola waren von seiner taktischen Wissbegier so angetan, dass sie ihn am liebsten adoptiert hätten. Zusätzlich zu den Einheiten im Klub und in der Nationalelf leistet sich Kimmich einen Individualtrainer.

In der gesamten Saison verpasste er in der Bundesliga und bei der Nationalelf keine einzige Spielminute. Keine Verletzung, nicht mal ein Schnupfen. Und wenn der FC Bayern getroffen hat, brüllt er seine Freude heraus. Nicht umsonst kursiert im Netz der Spruch: Wer in großen Spielen nicht von Kimmich angeschrien wurde, war nicht dabei. Erzählt man ihm davon, lacht er verstohlen darüber und nickt. So richtig erklären kann er die Jubelpose mit dem Schrei nicht, sie kommt einfach aus ihm heraus. Er muss an irgendeinem Tropf voll Ambition hängen. Und das schon seit seinem siebten Lebensjahr.

Amsterdam, 24. März. In den Niederlanden schießt Deutschland das 3:2 in der Nachspielzeit – der erste Erfolg nach fünf Pflichtspielen ohne Sieg ist so gut wie sicher. Kimmich geht in die Knie, schreit noch einmal, doch dann schreckt er auf. Er sieht, wie die Niederländer den Ball zum Anstoß in Richtung Mittellinie werfen. Er rennt ihm entgegen, stoppt ihn mit dem Fuß, nimmt ihn auf, läuft einige Schritte, wirft ihn zurück zum Tor. Das Spiel ist so gut wie beendet, die Mitspieler sind in Ekstase, aber in einem belanglosen Ball wittert er noch immer Gefahr.

Die Feder, die Kimmich bis heute spannt, wurde auf einem Baugelände in seiner Heimatstadt aufgezogen. Sein Werdegang hängt nicht zuletzt mit seiner Körpergröße zusammen und wohl mit einer tiefen, bis heute nicht ganz vernarbten Kränkung.

Kimmichs erstes Stadion war eine große Wiese nahe der Dorfausfallstraße im württembergischen Bösingen. 3500 Seelen wohnen hier, es gibt ein Bauernmuseum, mittags fahren Traktoren Heuballen durch den Ort. Alle Bewohner sind Kimmich-Fans, natürlich, selbst der Wirt des Gasthofs „Wilder Mann“, der dem Bayern-Star beharrlich seine geliebten Schalke-Trikots zum Unterschreiben hinhält.

Kimmichs Eltern hatten dem Klub um die Ecke für kleines Geld alte Tore abgekauft. Der sieben Jahre alte Joshua und seine Freunde bauten sie auf, steckten Eckfahnen ein, streuten mit Sägemehl Außenlinien, mähten selbst den Rasen. In die Hügel des Schutts der angrenzenden Baustelle zimmerten sie aus Brettern eine Art Tribüne. Neben dem Platz bauten sie ein paar Jahre später mit Hilfe ihrer Eltern eine kleine Hütte: ein Vereinsheim, in dem sie in Schlafsäcken übernachteten. Kimmich und seine Freunde kickten in den Trikots von Barcelonas Xavi oder Dortmunds Tomas Rosicky. Das Stadion sei zwar „selten ausverkauft“ gewesen, erinnert sich Kimmich lächelnd, doch es wurde auch zu seiner fußballerischen Schule, weil sich alle Spieler des Dorfes zu diesem besonderen Platz aufmachten. „Im Gegensatz zum Vereinsfußball musste ich mich hier gegen Ältere behaupten, das war schon eine Herausforderung, schließlich war ich lange Zeit immer der Jüngste.“ Es sollte das erste Mal werden, dass er sich gegen physisch stärkere Spieler durchsetzen musste – aber nicht das letzte.

„Er konnte mit sechs Jahren schon beidfüßig schießen“, erzählt Kai Flamm, ein enger Freund seit der Kindheit. Sie gehen noch heute in der Weihnachtszeit in der Halle kicken. Flamm zeigt auf die heute verlassene Wiese, auf der früher ihr „Kickstadion“ stand. „Wer beim Jo in der Mannschaft war, hat gewonnen“, sagt Flamm. Das sei übrigens auch im Tennis und Handball so gewesen und bei der Tour de France, die sie gemeinsam nachspielten. „Wir haben extra Siegerpodeste gebaut“, erinnert sich Flamm. Bald schon stand Kimmich dann auch auf Podesten, die andere aufgebaut hatten. Als er mit seinem Dorfverein in der Jugend mal den großen VfB entzauberte, luden die Akademieleiter seine Eltern mehrmals nach Stuttgart ein. Doch der Vater ließ sich davon nicht beeindrucken: „Wenn sie was wollen, dann können sie auch gerne zu uns kommen“, erinnert sich Kimmich an den Satz. Klaus Hubrich, damals VfB-Jugendtrainer machte sich also auf den 120 Kilometer langen Weg nach Bösingen und überzeugte die Eltern, den 12-jährigen Sohn aufs Internat zu schicken. „Wir saßen bei einer großen Wurst- und Käseplatte“, erinnert sich Hubrich. „Die Verabredung lautete: Wir probieren es, aber Joshua sollte dafür sorgen, dass sich die Eltern keine Sorgen machen.“

Kai Flamm (oben rechts) über Kimmich (obere Reihe in der Mitte)

Kimmich beobachtete, wie andere Eltern bei den VfB-Jugendspielen am Seitenrand hin- und herrannten, wie sich die Kinder nach Toren aufgeregt zu ihren Eltern wandten. Kimmichs Vater fuhr währenddessen auch mal einkaufen oder zum Friseur. Die Analyse bei der Rückfahrt im Auto fiel knapp aus. Ab und an mal ein Lob, bei weniger guten Spielen herrschte eher Stille, vom Traum Profifußball war keine Rede. Joshua Kimmich sagt: „Für meine Eltern wäre es auch heute noch kein Problem, wenn ich morgen mit dem Fußballspielen aufhören würde.“ Er erzählt häufiger davon, mit Bewunderung in der Stimme. In der Bayern-Welt, wo jeder seiner Schritte medial ausgeschlachtet wird, bewahrt sich sein Umfeld die Distanz zur Fußballblase. Vielleicht, sagt er, hätten ihn seine Eltern auch nicht zusätzlich belasten wollen. Er verzieh sich ja selbst schon keine Fehler. Kimmich imitierte den Druck von außen. Er wurde sein eigener Tennisvater und seine eigene Eislaufmutter in einem. Nach Niederlagen fuhr er früher extrem aus der Haut, brach in Tränen aus, schimpfte wüst über sich und die Mitspieler. So extrem ist er heute nicht mehr, Vertraute berichten aber: Wenn sie ihm aufbauende, positive Nachrichten schrieben, entgegne er schon mal, dass sie sich das verkneifen könnten.

Kimmich überzieht bisweilen mit seiner Selbstkritik. Das Aus bei der EM 2016 beschäftigte ihn wochenlang, ein schlechtes Spiel wie in der letztjährigen Hinrunde gegen Freiburg spricht er öffentlich an. Das hat etwas von Selbstkasteiung. Der Eishockeytrainer Don Jackson, Meister mit Berlin und München, beschrieb das Jobprofil für neue Spieler einmal so: „Ich will Leute, die das Gewinnen lieben und das Verlieren hassen.“ Bei Kimmich wirkt es so, als ob ihn vor allem der Hass aufs Verlieren antreibt. Und der Zorn über den Kontrollverlust, wenn er einen Mangel nicht aus eigener Kraft beheben kann. Wie damals, als ihn Jugendtrainer für zu leicht und schmächtig befanden.

Im Mai 2019 betritt eine ältere Dame ein kleines Café in München-Giesing. Sie sagt eher halbherzig „Guten Morgen“ ins Lokal, doch Joshua Kimmich grüßt mitten im Satz zurück. Die Dame schaut irritiert, den Burschen kennt sie doch aus dem Fernsehen. Nach dem kurzen Gruß spricht Kimmich weiter über seinen Werdegang. Gute Manieren bekamen er, Goretzka und all die anderen der neuen Garde eingeimpft, sie sind Internatsschüler. Heute besteht die Nationalelf durchweg aus Absolventen der Jugendakademien. Bei der WM 2014 gehörte noch Miroslav Klose zum Team, der erst mit 22 Jahren in der Amateurklasse entdeckt worden war. Kimmich ist mit 22 schon einmal für ein paar Minuten Kapitän der Nationalelf gewesen. Heutige Youngster erheben ihren Führungsanspruch nonchalant und bestimmt zugleich. Sie werden im Gegensatz zur Generation Schweinsteiger/Lahm eher Profis, sie kommen in Mannschaften mit sehr flachen Hierarchien. Michael Ballack hätte seine Kapitänsbinde wohl eher vor laufenden Kameras heruntergeschluckt, als sie an einen Typen von Anfang zwanzig zu übergeben. Kimmich muss heute mit weniger Widerständen in seinen Teams rechnen. Wahrscheinlich verfügt seine Generation auch deshalb über ein so ausgeprägtes Selbstverständnis, weil sie mit Druck groß geworden ist und schon im Teenageralter das disziplinierte Leben von Profis führen musste.

„DU SCHAFFST ES IN LEIPZIG NICHT, DIE FRESSEN DICH AUF!“

Mit 16 erlaubte sich Kimmich mit einigen Mitspielern im Jugendinternat einen Spaß, sie bewarfen sich im Essensraum mit Früchten, die Reste klebten an den weißen Wänden. Ein Dumme-Jungen-Streich, doch in der Welt der Leistungszentren sorgen solche kurzen Aussetzer für Erschütterungen. Einige Tage später sollte er seinen ersten Fördervertrag unterschreiben, seine Eltern reisten eigens dafür an. Doch Jugendleiter Frieder Schrof, bekannt für seine Prinzipientreue, schob den Vertrag beiseite und teilte den Kimmichs mit: Ihr Sohn ist eine Woche lang suspendiert! Statt im Internat schlief er auf der Matratze im Kinderzimmer eines Freundes. „In diesem Moment wurde mir bewusst, wie schnell die große Chance vergehen konnte.“ Ein anderer junger Spieler leistete sich nach der Essensschlacht einen weiteren Fehltritt und wurde aus dem Internat geworfen. Kimmich hingegen fügte sich dem Mönchsleben des Leistungszentrums, weitere Eskapaden sind nicht vermerkt, auch keine Tattoos oder ungesunde Ernährung. Er schloss sein Abitur mit 1,7 ab, wurde Stammspieler und Kapitän der U19. Doch auf dem Sprung zur U23 hielt ihn eine Schwäche auf: seine Statur. Die Trainer und Verantwortlichen in Stuttgart hielten ihn für zu schmächtig – und für zu schwach im Vergleich mit der Konkurrenz. Spricht er heute über diese Zeit, klingt er noch immer angegriffen: „Überall bekam ich zu hören: Du bist zu klein, du bist zu schmächtig. Viel von meinem Antrieb rührt aus dieser Zeit.“

Im Sommer 2013, Kimmich ist jetzt volljährig, bekommt er keine Chance beim VfB. Fredi Bobic, damals Sportdirektor, sagt: „Josh hatte sich erhofft, direkt im Profiteam durchstarten zu können. Dann hat er aber erkennen müssen, dass wir auf seiner Lieblingsposition unter anderem mit Rani Khedira einen Spieler hatten, der ihm zwei Jahre voraus war. Doch für Joshua gab es kein Warten.“ Genau in dieser Phase verpflichtet ihn RB Leipzig, damals aufstrebender Drittligist. Bobic sagt: „Ich habe dem Transfer nur unter der Bedingung der Rückkaufoption zugestimmt, weil ich seine Entwicklung und das große Potential gesehen hatte.“

Im Internat sollte Kimmich eine Geldstrafe zahlen - und übergab polnische Zloty

Kurz vor dem Wechsel des 18-Jährigen wird der Umgangston in Stuttgart jedoch scharf. Als er MRT-Bilder beim Physiotherapeuten des Klubs abholen will, begegnet er auf dem Flur einem Funktionär, der ihm prophezeit: „Du schaffst es in Leipzig nicht in der Ersten, die Zweite spielt Landesliga. Das ist Erwachsenenfußball. In der Jugend bei uns wärst du Kapitän, dort wirst du aufgefressen.“ Als Kimmich später seinen Spind ausräumt, wiederholt ein Trainer: Du wirst aufgefressen.

In Leipzig muss Kimmich in den ersten Monaten individuelles Rehatraining absolvieren, eine Schambeinentzündung plagt ihn da schon seit Jahren. Bei jeder Bewegung spürt er das Ziehen. „Dann kommen Gedanken wie der, dass ich nie wieder ohne Schmerzen Fußball spielen kann.“ Er wohnt allein im Hotel, muss sich ein Fahrrad vom Athletiktrainer leihen, um überhaupt Wohnungen zu suchen. Jeden Tag, nach langen Behandlungen und einsamen Tagen in der fremden Stadt, klagt er den Eltern am Telefon von seinem Heimweh.

„ICH GING UNTER UND DACHTE: WIE SOLL ICH DAS SCHAFFEN?“

Auch als er endlich wieder im Training dabei ist, Ende September 2013, wird es nicht einfacher. Die etablierten Spieler lassen ihn ihre Skepsis spüren: „Wer bist du?“, fragen sie. „Du hast viel Geld gekostet und liegst hier monatelang nur auf der Massagebank.“ In seinem ersten Training fühlt er sich hilflos wie selten. Die Leipziger jagen den Gegner, hecheln mit mehreren Spielern auf den Ballführenden, lassen ihm keine Zeit, es geht körperlich zur Sache. „In den ersten 15 Minuten sah ich keinen einzigen Ball, das Spiel lief komplett an mir vorbei. Ich ging total unter. Ich dachte mir nur: ,Wie soll ich das schaffen?‘“ Du wirst aufgefressen. Der Satz aus Stuttgart rotiert in Kimmichs Kopf.

Liverpool, 19. Februar 2019. Im Hinspiel des Champions-League-Achtelfinals stoppt Kimmich einen Schuss von Liverpools Sadio Mané in letzter Sekunde. Er brüllt Mané seinen Jubel aus kürzester Distanz entgegen. Die Botschaft ist die gleiche wie beim Länderspiel 2017 gegen Chile, als er sich eine heftige Rangelei mit dem nicht gerade zimperlichen Arturo Vidal lieferte. Der Subtext seiner Rottweiler-Attitüde ist jedes Mal: DU wirst aufgefressen! Nicht ich!

Im Rückspiel gegen Liverpool schießt Sadio Mané zwei Tore, die Bayern spielen zahnlos und fatalistisch. Ihnen fehlt der letzte Wille, der Mut – und ihr gelbgesperrter Rechtsverteidiger. Es ist das einzige Spiel der Saison, das Kimmich verpasst.

Joshua Kimmich wägt vorsichtig ab, wem er sich anvertraut. „Er macht sich gern ein Bild von einer Person, bevor er ein engeres Verhältnis eingeht“, sagt Tim Lobinger. „Er hat ein gutes Gespür dafür, wer ihm guttut und wer nicht.“ Der ehemalige Stabhochspringer lernte Kimmich seinerzeit als Athletiktrainer in Leipzig kennen, arbeitete mit ihm an Beinkraft und Oberkörper für das physisch orientierte Leipziger Spiel. Sie verstanden sich auf Anhieb sehr gut. Zunächst war Kimmich skeptisch, mit einem Mitarbeiter aus dem Betreuerstab befreundet zu sein. Das änderte sich in München, als Lobinger ihn dort von 2016 an mindestens einmal die Woche individuell trainierte. Lobinger ist als ehemaliger Spitzensportler Experte für Athletik und Ernährung, er ist aber auch ein großer Experte im Herumblödeln. Als Joshua Kimmich und sein Leipziger Mitspieler Diego Demme mit ihren Freundinnen vor einiger Zeit in einem schicken Restaurant aßen, knallte sich Lobinger mit vollem Körper von außen gegen die Fensterscheibe. Lobinger ist der Antipode zur Fußballbranche, in der sich die meisten Beteiligten gern ziemlich wichtig nehmen. Und jemand, der erfahren musste, wie ernst das Leben werden kann.

Im Frühjahr 2017 diagnostizierten Ärzte bei Lobinger eine besonders aggressive Form der Leukämie. Fünf Mal musste er sich in den folgenden Jahren einer Chemotherapie unterziehen, nach einem Rückfall versagte seine Leber. Er überlebte dank eines Stammzellenspenders. Heute ist er krebszellenfrei. Kimmich besuchte Lobinger im Krankenhaus, genierte sich aber, existentielle Fragen über den Tod zu stellen. „Es war schwierig für mich, wie ich mit ihm umgehen sollte. Natürlich will man als Freund helfen, aber man kommt sich blöd vor, jeden Tag zu fragen: ,Wie geht’s dir?‘“ Wenn er doch mal fragte, verkaufte Lobinger jeden Rückfall als positiven Effekt. Er habe Fieber bekommen, aber das fördere die Antikörper.

Vor dem Confed-Cup bestritten Kimmich und der schwer kranke Tim Lobinger ein Extra-Trainingslager

Die beiden unterhielten sich am Krankenbett meistens über Fußball, Kimmichs Rolle bei den Bayern und in der Nationalmannschaft. Und der von Chemotherapien geschwächte Lobinger blühte in dieser Rolle auf, lenkte sie ihn doch von seiner Krankheit ab. Das Ganze ging so weit, dass die beiden ein spezielles Trainingscamp vor dem Confed-Cup 2017 planten. Der Trainer Lobinger musste morgens zur Blutinfusion, lief ohne Haare und abgemagert zum Olympiastützpunkt in München. Auf einem gemieteten Platz pumpten die beiden Bälle auf, dann schlug Lobinger Diagonalpässe auf Kimmich, schulte dessen Antritt und Ballverarbeitung. Abends ging Kimmich erschöpft heim, und Lobinger ins Krankenbett. Eine Woche lang. Kimmich verpasste später in Russland kein Spiel. Als er den Siegerpokal hochreckte, verfolgte Lobinger die Szene mit Stolz am Krankenhausfernseher. Erst Monate später, bei einem gemeinsamen Abendessen mit Kimmichs Freundin, sprach er Lobinger auf die einsame Zeit in der Isolation und während der Chemo an. „Ich hatte da erst realisiert, welche Momente er wohl durchgemacht haben muss“, sagt er heute. „Momente, in denen du auf dich allein gestellt bist, in denen dir keiner helfen kann und in denen es um Leben und Tod geht.“ Er habe sich nicht getraut, ihn zu diesen Momenten zu befragen – bis zu diesem Abendessen. Lobinger erzählte dem viel jüngeren Kimmich da zum ersten Mal von seiner Angst vor dem Sterben, von den dunklen Momenten ohne Optimismus und Hoffnung, aber auch von seinem Kampf. So hart sei der gewesen, dass Lobinger bei der erlösenden Nachricht, krebszellenfrei zu sein, im ersten Moment gedacht habe: „Das ist auch das Mindeste, nach allem, was ich durchgemacht habe.“

Bei jenem Abendessen standen allen Dreien Tränen in den Augen, erzählen Lobinger und Kimmich. Daheim setzte sich Kimmich an den Schreibtisch, griff sich ein weißes Blatt Papier und fasste einen der bewegendsten Abende seines Lebens noch einmal zusammen. Diesen Notizzettel hat er bis heute aufgehoben. Er sagt: „Es mag komisch klingen, aber als es Tim am schlechtesten ging, hat er mir mehr geholfen als ich ihm.“

Er half ihm sportlich, natürlich, aber auch beim Blick auf den Sport und darüber hinaus. Die bestechende Reife und Entschlossenheit von Joshua Kimmich erklärt sich auch damit, dass er seinen Freund begleitete. Beim Kampf gegen den wohl schwersten Gegner.

25. Mai 2019, Pokalfinale in Berlin. In der 47. Minute gewinnt Leipzig den Ball kurz hinter der Mittellinie in der eigenen Hälfte. Kimmich steht nah an seinem Gegenspieler Emil Forsberg und spekuliert darauf, den Ball abzufangen. Er macht einen Schritt nach vorne, als der Ball genau in den Lauf von Forsberg gespielt wird. Kimmich sprintet hinterher, aber Forsberg ist schneller. Mit einer Weltklasseparade kann Manuel Neuer gerade noch den Gegentreffer verhindern. Kimmich spielt bis auf diese Nachlässigkeit groß auf, gewinnt 83 Prozent der Zweikämpfe, rettet zwei Mal in letzter Sekunde, bereitet das dritte Tor vor.

Wenn Joshua Kimmich abschalten will, läuft er durch den Perlacher Forst im Süden von München. Die Isar fließt gleich nebenan. Die idyllische Ruhe der bayerischen Flusslandschaft ist der Kontrast zum impulsiven, temporeichen, aggressiven Spiel, für das die Szenen im Pokalfinale prototypisch stehen. Kimmich prescht nach vorne, nicht immer ohne Risiko. Manchmal wird der Weg zurück dann zu weit – wie im WM-Vorrundenspiel 2018 gegen Mexiko. Die Mitspieler murrten, und die Presse schimpfte, er habe statt als Rechtsverteidiger wie ein Rechtsaußen gespielt. Das hört er häufiger, letzte Saison berichtete die „SportBild“, auch Bayern-Trainer Niko Kovac habe in einer Teamsitzung Kimmich wegen seines Offensivdrangs gerügt. Kimmich ist anzumerken, dass ihn die Diskussion nervt. Sagen die Trainer nicht immer, dass die Außenverteidiger hoch stehen sollen? Also bitte. Und die Nationalelf habe schon vorher erfolgreich so gespielt. Die Kritik überraschte ihn, auch weil Kimmich nun einmal offensiv denkt. Und damit anders, auch das gehört zur Geschichte der vergangenen Saison, als die Bayern gerade im Rückspiel gegen Liverpool unter Niko Kovac agierten.

Denn wenn derzeit im Fußball die Modefloskel „gegen den Ball arbeiten“ inflationär gebraucht wird, so ist Kimmich mit seiner Spielidee die schroffe Antithese. Als Schüler von Guardiola und erklärter Verehrer von Xavi will er vor allem mit dem Ball arbeiten. Sein früherer Leipziger Trainer Alexander Zorniger sieht ihn deshalb auch wie Joachim Löw in der Zentrale: „Jo hätte die Spielweise bei uns auch nicht noch zwei weitere Jahre ertragen. Er kann gegen den Ball spielen, aber aus einer Teamtaktik heraus ihn schnell herzugeben – das passt nicht zu ihm. Er muss den Ball haben, er muss am Spiel beteiligt sein. Sonst ist er wie im Käfig gefangen.“ Was bedeutet: Auch wenn er bei den Bayern nur als rechter Verteidiger eingesetzt wird, ist Kimmich in Wahrheit zentraler Mittelfeldspieler. So sieht er sich auch selbst, in der Mitte des Geschehens. Er schiebt den Körper in den Zweikämpfen vor den Gegenspieler, ist giftig, kann Bälle auch unter Bedrängnis schnell verarbeiten, hat einen geschulten peripheren Blick und gutes Timing. Er kann sauber passen und ein Spiel öffnen. Kimmich ist manchmal etwas zu leichtsinnig im Aufbau, er sollte spritsparender spielen – doch seinen Stil wird er nicht ändern. Zug nach vorne, immer mit Ball. Im Länderspiel gegen Estland erreichte er den erstaunlichen Wert von 178 Ballaktionen in 90 Minuten.

Alexander Zorniger über Kimmich

In Kimmichs Spiel spiegelt sich seine Biografie. Im „Kickstadion“ brachte er sich die Beidfüßigkeit bei, in der Jugend beim VfB erzog er sich als Kleinster zu seinem starken Willen. In Leipzig wurde seine Aggressivität, bei Bayern unter Pep Guardiola sein taktisches Verständnis geschult. Und die Verbissenheit. Kimmich erzählt zum Abschied an der Isar von seinem ersten Spiel mit den Bayern. Das Team gewann 5:0 gegen Hamburg, er kam völlig happy in die Kabine, obwohl er keine Minute gespielt hatte. Erstaunt stellte er fest, dass bei seinen Kollegen von großer Euphorie nichts zu spüren war. Kimmich sagt: „Bei den Bayern lernte ich den Grundsatz: Es reicht nicht, nur zu gewinnen.“ Dann muss er los, morgens um halb neun fährt er vom Forst an die Säbener Straße. Und trainiert. Viele Kollegen trifft er dort nicht. Niko Kovac hat dem Team für diesen Tag frei gegeben.